27.01.2023

Liebe und Sexualität – Gemeinsam einfach machen

Sexualität

Um die Auseinandersetzung mit dem Thema fundiert anzugehen, ist ein gemeinsames Verständnis bzw. eine  Definition  von  Sexualität  hilfreich.  Allzu  häufig wird  Sexualität  eng  verstanden  als  Genitalsexualität.  Sexualität  ist  jedoch  weitaus mehr.  Sie  gehört  wesentlich  zu  jedem  Menschen  und  ist  Teil  seiner  Lebenskraft. Sexualität erstreckt sich auf alle Lebensphasen des Menschen und gewinnt schon in der frühesten Kindheit an Bedeutung. Sie hört auch nicht in einem bestimmten Alter auf.

„Sexualität kann begriffen werden als allgemeine, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen – soziogenen und biogenen Ursprungs – gespeist wird. Sie beinhaltet eine geschlechtsspezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche – positiv und negativ erfahrbare – Ausdrucksformen und ist in verschiedenster Weise sinnvoll.“ – Barbara Ortland (2005)

SEXUALITÄT ALS WESENSMERKMAL UND GRUNDRECHT JEDES MENSCHEN

„Jeder  hat  das  Recht  auf  die  freie  Entfaltung  seiner  Persönlichkeit,  …“ (Art.  2,  GG). Sexualität  und  Partnerschaft  sind  Teil  der  individuellen  Persönlichkeitsentwicklung. Das Recht auf Sexualität beinhaltet Aspekte wie Intimsphäre, sexuelle Identität, freie Partnerwahl,   Sexualaufklärung,   Sensualität,   Erotik   bis   hin   zum   Kinderwunsch. Sexualität  ist  ein  menschliches  Grundbedürfnis  und  ein  erfülltes  Sexualleben  trägt wesentlich  zu  Wohlbefinden  und  Ausgeglichenheit  eines  Menschen  bei.  Durch Einschränkungen,  die  sich  häufig  im  Rahmen  des  institutionellen  Lebenskontextes von Menschen mit Behinderungen ergeben, wird dieses Wohlbefinden der Menschen mit Behinderung jedoch deutlich eingeschränkt. „Niemand  darf  wegen  seiner  Behinderung  benachteiligt  werden“  (Art.  3,  GG).  Diese Gleichstellung und Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung gilt für alle Bereiche des menschlichen Lebens – auch für Partnerschaft und Sexualität. Des Weiteren ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in Artikel 25 a) der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten.

SEXUALPÄDAGOGISCHE GRUNDLAGEN

Um   Sexualität   leben   und   erleben   zu   können,   ist   eine   sexuelle   Aufklärung unverzichtbar. Diese beinhaltet zum einen die Vermittlung von Kenntnissen über die verschiedenen Bereiche der Sexualität und umfasst weite Bereiche vom Wissen über den   eigenen   Körper,   über   die   Geschlechterrollen   bis   hin   zu   Fragen   der Genitalsexualität. Über diese reine Wissensweitergabe hinaus muss Sexualpädagogik  auch  Werte  und  Haltungen  vermitteln.  So  soll  Aufklärung  dazu beitragen,  eigene  Gefühle  wahr-und  ernst  zu  nehmen,  eigene  Bedürfnisse  und  die Bedürfnisse anderer zu erkennen (und anzuerkennen), aber auch sich abgrenzen zu können. Besonders das Themenfeld „Consent: Nur ja heißt ja!/ Nein heißt nein!“ ist in regelmäßigen Abständen im Sexualunterricht zu behandeln. Somit  stellt  eine  angemessene  Aufklärung  die  wesentliche  Grundlage  bei der  Entwicklung  der  eigenen  Identität  als  Mann, Frau oder diverse Person und  der  sexuellen Selbstbestimmung jedes Menschen dar. Ebenfalls ist sie unverzichtbarer Bestandteil bei   der   Prävention   vor   sexuellem   Missbrauch   sowie   vor sexuelle übertragbaren Krankheiten.

Die  Themen  der  Sexualpädagogik  richten  sich  in  erster  Linie  nach  den  aktuellen Bedürfnissen    der    behinderten    Menschen.    Es    ist    deshalb    Aufgabe    der  Mitarbeiter:innen,   diese   Bedürfnisse   zu   erkennen   und   passende   Formen   der Vermittlung von Wissen oder Fähigkeiten zu finden. Dabei ist es wichtig, dass eigene Anschauungen  oder  Themen  die  sexualpädagogische  Arbeit  nicht  dominieren  und sexualpädagogische Aspekte im Team offen angesprochen und diskutiert werden.

DIE PROFESSIONELLE HALTUNG DER MITARBEITERINNEN

Von Seiten der MitarbeiterInnen erfordert dies eine positive und professionelle Grundhaltung gegenüber der Sexualität der zu betreuenden Menschen. Dazu gehören:

  • Achtung vor der Intimsphäre(z. B. Anklopfen, kein Eintreten ohne Aufforderung, Tür schließen bei pflegerischen Handlungen, …),
  • Bewusstsein der eigenen Vorbildfunktion,
  • ausgewogenes Verhältnis von Nähe und Distanz zu Menschen mit Behinderung,
  • angemessene Sprache,
  • Toleranz gegenüber individuellen sexuellen Wünschen und Ausrichtungen(z. B. Homosexualität, erotischen Zeitschriften, Videos, …)
  • Offenheit, einen wie auch immer gearteten Hilfebedarf im Bereich Sexualität zu
  • erkennen und
  • Bereitschaft, die notwendige Unterstützung in Form einer passiven Assistenz zu leisten.
  • Diese Punkte müssen ein wesentlicher Teil der Ausbildung ggf. des Studiums sein.

KINDERWUNSCH VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNG

Die Freiheit zur Familiengründung ist ein Menschenrecht. Auch viele Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen wünschen sich Kinder und ein erfülltes Familienleben. Für diese Eltern hält der Familienalltag jedoch häufig zusätzliche

Herausforderungen bereit. Geeignete Unterstützungsangebote können es auch diesem Personenkreis ermöglichen, eine aktive Elternschaft zu verwirklichen. Dazu zählen beispielsweise Elternassistenz und begleitete Elternschaft.

Elternassistenz ist eine personelle Hilfeleistung, die vor allem Eltern mit Körper- und Sinnesbehinderung dabei unterstützt, den Familienalltag selbstbestimmt zu gestalten und eigenverantwortlich für das Wohl des Kindes zu sorgen.Die Eltern bestimmen Art und Umfang der benötigten Hilfen und wählen eine geeignete Assistenzperson aus. Die Kompetenz zur Erziehung bleibt weiterhin bei den Eltern; diese entscheiden über die erzieherischen Belange.

Begleitete Elternschaft ist eher ein Unterstützungsangebot für Eltern mit psychischer oder geistiger Behinderung, wenn sie Förderung benötigen, um die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachkommen zu können. Eltern können dann pädagogische Anleitung, Beratung und Begleitung zur Wahrnehmung ihrer Elternrolle erhalten. Ziel ist es, diesen Familien eine dauerhafte und gemeinsame Lebensperspektive zu ermöglichen und dabei das Wohl der Kinder sicherzustellen.

Auch Menschen mit Behinderung haben viele offene Fragen zu Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt sowie Kinderpflege, -betreuung und -erziehung. Eine der häufigsten Fragen ist sicherlich: „Wie gelingt trotz Behinderung ein selbstbestimmtes Familienleben mit Kindern?“ Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen helfen Antworten zu finden, zeigen Möglichkeiten für konkrete Hilfen auf und bieten Unterstützung an.

EMPFÄNGNISVERHÜTUNG

Mit  dem  Anspruch,  die  sexuellen  Bedürfnisse  der  Menschen  mit  Behinderung  ernst zu   nehmen,   ist   auch   ein verantwortungsvoller   Umgang   mit   der   Frage   der Empfängnisverhütung verbunden. Nur unter besonderen Umständen, darf diese präventiv erfolgen.

An    folgenden    Kriterien    sollte    sich    eine     Entscheidung    orientieren, welche Verhütungsmethode bei Menschen mit Behinderung eingesetzt wird:

  • Wie zuverlässig ist die selbständige Einnahme?
  • Werden gleichzeitig  Medikamente  eingesetzt,  die  bestimmte  Präparate  von
  • vornherein ausschließen?.
  • Welche Nebenwirkungen und Spätfolgen sind zu erwarten?
  • Grundsätzlich: So verträglich wie möglich, nur so viel Eingriff wie nötig.
  • Keine prophylaktische  Verhütung,  sondern  ausschließlich  am  tatsächlichen Bedarf orientiert!
  • Wo immer  möglich,  sollte  die  Entscheidung  durch  und  mit  den  Betroffenen getroffen werden, um ein Bewusstsein für diesen Bereich zu wecken.

Sterilisation von Frauen mit Behinderungen

Untersuchungen zur praktischen Umsetzung der Sterilisation von Frauen mit Behinderungen zeigen, dass die dafür geltenden rechtlichen Vorgaben aus § 1905 BGB nicht immer eingehalten werden. Zur Eingrenzung der teils vorschnellen Praxis soll die Sterilisation nur noch dann zulässig sein, wenn zur Bestätigung des Vorliegens von § 1905 BGB zwei medizinische Gutachten vorliegen. Diese sind von den Ärztinnen und Ärzten unabhängig voneinander zu erstellen, mindestens einer oder eine von beiden darf die Patientin nicht dauerhaft betreuen.

Um außerdem keine finanziellen Anreize zur frühzeitigen Sterilisation von Frauen mit Behinderungen zu schaffen, fordern wir die altersunabhängige Übernahme der vollen Kosten für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel durch die Krankenkassen.

SEXUALASSISTENZ

Die sogenannte Sexualassistenz spielt eine zentrale Rolle in der Überwindung der alltäglichen Hindernisse in der Auslebung der eigenen Sexualität von Menschen mit Behinderung. Grundlage dafür muss ein Zugang zu sexualpädagogischer Information und Beratung sein.

Hier  ist  die  Unterscheidung  zwischen  passiver  und  aktiver  Assistenz  zu  treffen.  Die passive Assistenz beinhaltet indirekte Hilfen. Hilfen, die Voraussetzungen schaffen, dass sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden können. Dazu gehören zum Beispiel:

  • Sexualpädagogische Information und Beratung,
  • Sicherstellung eines privaten Raumes und ungestörter Zeit,
  • Unterstützung bei der Partnersuche,
  • Gelegenheiten geben, den eigenen Körper zu berühren(bei Windelträgern, Trägern von Overalls, …),
  • Hilfe bei   der   Beschaffung   von   Hilfsmitteln   wie   erotische   Zeitschriften   oder Abbildungen,   Videos,   künstlicher   Vagina,   Vibrator,   Gegenständen, die als Fetisch dienen können.

Bei der aktive  Sexualassistenz handelt es sich hierbei zum Beispiel um:

  • Stimulation mit dem Ziel sexueller Erregung (erotische Massagen, Berührungen mit dem eigenen Körper …)
  • Anleitung zu einer befriedigenden Masturbation oder aktive Unterstützung bei der Masturbation (Handführung oder eigenes „Hand anlegen“)
  • Geschlechtsverkehr

Auf die aktive Sexualassistenz besteht kein grundsätzliches Recht, dennoch darf der Zugang dazu nicht verwehrt werden.

SCHUTZ VOR SEXUELLEM MISSBRAUCH

Sexueller Missbrauch von Menschen mit Behinderung ist ein besonderes Tabu, das  im deutschsprachigen Raum vor allem seit der Mitte der 90er Jahre Gegenstand der Forschung ist. Studien und Untersuchungen belegen, dass:

  • Menschen   mit   Behinderung   häufiger sexueller   Belästigung   und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind als Menschen ohne Behinderung,
  • Menschen mit  Behinderung,  die  in  Einrichtungen  leben  und  aufgewachsen  sind, einem größeren Risiko ausgesetzt sind.
  • Sexueller Missbrauch  gegenüber  Menschen  mit und  ohne  Behinderung  fast immer eine Beziehungstat ist und die Täter überwiegend Männer sind (90%). „Institutionen für Menschen mit Behinderung sind „Hochrisikogebiete für sexualisierte Gewalt.“ (Tschan, 2012)“

Wie könnte sexueller Missbrauch möglicherweise verhindert werden?

  • Durch eine    frühzeitig einsetzende    und    fortlaufende    sexualpädagogische Begleitung. Das Wissen um körperliche Vorgänge, die Sicherheit, zwischen angenehmen und unangenehmen Gefühlen unterscheiden zu können und die Fähigkeit, nein sagen zu können, sind zusätzlicher Schutz für Menschen mit Behinderung.
  • Das Thema  Selbstbestimmung  und  Abgrenzung  muss  beständig  Thema  bleiben und  muss in  den  verschiedenen  Bereiche, die dieses Thema betrifft  auf  die  Umsetzung diskutiert werden.
  • Durch eine  Grundhaltung,  die  den  Menschen  mit  Behinderung  das  Recht  auf Intimität,  Sexualität  und  einem  sorgsamen  Umgang  damit  zu gesteht;  ebenso durch eine Atmosphäre, in der persönliche Grenzen geachtet werden.
  • Durch eine offene Kommunikation und einen Austausch zum Thema Sexualität – sexueller  Missbrauch  innerhalb  der  verschiedensten  Bereiche, in denen mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet wird.
  • Durch die    Stärkung    der    Menschen    mit    Behinderung    in    Bezug    auf Selbstbestimmung, Wunsch-und Wahlrechte, Ressourcen und Fähigkeiten.

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