Sexualität
Um die Auseinandersetzung mit dem Thema fundiert anzugehen, ist ein gemeinsames Verständnis bzw. eine Definition von Sexualität hilfreich. Allzu häufig wird Sexualität eng verstanden als Genitalsexualität. Sexualität ist jedoch weitaus mehr. Sie gehört wesentlich zu jedem Menschen und ist Teil seiner Lebenskraft. Sexualität erstreckt sich auf alle Lebensphasen des Menschen und gewinnt schon in der frühesten Kindheit an Bedeutung. Sie hört auch nicht in einem bestimmten Alter auf.
„Sexualität kann begriffen werden als allgemeine, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen – soziogenen und biogenen Ursprungs – gespeist wird. Sie beinhaltet eine geschlechtsspezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche – positiv und negativ erfahrbare – Ausdrucksformen und ist in verschiedenster Weise sinnvoll.“ – Barbara Ortland (2005)
SEXUALITÄT ALS WESENSMERKMAL UND GRUNDRECHT JEDES MENSCHEN
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, …“ (Art. 2, GG). Sexualität und Partnerschaft sind Teil der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Das Recht auf Sexualität beinhaltet Aspekte wie Intimsphäre, sexuelle Identität, freie Partnerwahl, Sexualaufklärung, Sensualität, Erotik bis hin zum Kinderwunsch. Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis und ein erfülltes Sexualleben trägt wesentlich zu Wohlbefinden und Ausgeglichenheit eines Menschen bei. Durch Einschränkungen, die sich häufig im Rahmen des institutionellen Lebenskontextes von Menschen mit Behinderungen ergeben, wird dieses Wohlbefinden der Menschen mit Behinderung jedoch deutlich eingeschränkt. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3, GG). Diese Gleichstellung und Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung gilt für alle Bereiche des menschlichen Lebens – auch für Partnerschaft und Sexualität. Des Weiteren ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in Artikel 25 a) der UN-Behindertenrechtskonvention festgehalten.
SEXUALPÄDAGOGISCHE GRUNDLAGEN
Um Sexualität leben und erleben zu können, ist eine sexuelle Aufklärung unverzichtbar. Diese beinhaltet zum einen die Vermittlung von Kenntnissen über die verschiedenen Bereiche der Sexualität und umfasst weite Bereiche vom Wissen über den eigenen Körper, über die Geschlechterrollen bis hin zu Fragen der Genitalsexualität. Über diese reine Wissensweitergabe hinaus muss Sexualpädagogik auch Werte und Haltungen vermitteln. So soll Aufklärung dazu beitragen, eigene Gefühle wahr-und ernst zu nehmen, eigene Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer zu erkennen (und anzuerkennen), aber auch sich abgrenzen zu können. Besonders das Themenfeld „Consent: Nur ja heißt ja!/ Nein heißt nein!“ ist in regelmäßigen Abständen im Sexualunterricht zu behandeln. Somit stellt eine angemessene Aufklärung die wesentliche Grundlage bei der Entwicklung der eigenen Identität als Mann, Frau oder diverse Person und der sexuellen Selbstbestimmung jedes Menschen dar. Ebenfalls ist sie unverzichtbarer Bestandteil bei der Prävention vor sexuellem Missbrauch sowie vor sexuelle übertragbaren Krankheiten.
Die Themen der Sexualpädagogik richten sich in erster Linie nach den aktuellen Bedürfnissen der behinderten Menschen. Es ist deshalb Aufgabe der Mitarbeiter:innen, diese Bedürfnisse zu erkennen und passende Formen der Vermittlung von Wissen oder Fähigkeiten zu finden. Dabei ist es wichtig, dass eigene Anschauungen oder Themen die sexualpädagogische Arbeit nicht dominieren und sexualpädagogische Aspekte im Team offen angesprochen und diskutiert werden.
DIE PROFESSIONELLE HALTUNG DER MITARBEITERINNEN
Von Seiten der MitarbeiterInnen erfordert dies eine positive und professionelle Grundhaltung gegenüber der Sexualität der zu betreuenden Menschen. Dazu gehören:
- Achtung vor der Intimsphäre(z. B. Anklopfen, kein Eintreten ohne Aufforderung, Tür schließen bei pflegerischen Handlungen, …),
- Bewusstsein der eigenen Vorbildfunktion,
- ausgewogenes Verhältnis von Nähe und Distanz zu Menschen mit Behinderung,
- angemessene Sprache,
- Toleranz gegenüber individuellen sexuellen Wünschen und Ausrichtungen(z. B. Homosexualität, erotischen Zeitschriften, Videos, …)
- Offenheit, einen wie auch immer gearteten Hilfebedarf im Bereich Sexualität zu
- erkennen und
- Bereitschaft, die notwendige Unterstützung in Form einer passiven Assistenz zu leisten.
- Diese Punkte müssen ein wesentlicher Teil der Ausbildung ggf. des Studiums sein.
KINDERWUNSCH VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNG
Die Freiheit zur Familiengründung ist ein Menschenrecht. Auch viele Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen wünschen sich Kinder und ein erfülltes Familienleben. Für diese Eltern hält der Familienalltag jedoch häufig zusätzliche
Herausforderungen bereit. Geeignete Unterstützungsangebote können es auch diesem Personenkreis ermöglichen, eine aktive Elternschaft zu verwirklichen. Dazu zählen beispielsweise Elternassistenz und begleitete Elternschaft.
Elternassistenz ist eine personelle Hilfeleistung, die vor allem Eltern mit Körper- und Sinnesbehinderung dabei unterstützt, den Familienalltag selbstbestimmt zu gestalten und eigenverantwortlich für das Wohl des Kindes zu sorgen.Die Eltern bestimmen Art und Umfang der benötigten Hilfen und wählen eine geeignete Assistenzperson aus. Die Kompetenz zur Erziehung bleibt weiterhin bei den Eltern; diese entscheiden über die erzieherischen Belange.
Begleitete Elternschaft ist eher ein Unterstützungsangebot für Eltern mit psychischer oder geistiger Behinderung, wenn sie Förderung benötigen, um die Grundbedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachkommen zu können. Eltern können dann pädagogische Anleitung, Beratung und Begleitung zur Wahrnehmung ihrer Elternrolle erhalten. Ziel ist es, diesen Familien eine dauerhafte und gemeinsame Lebensperspektive zu ermöglichen und dabei das Wohl der Kinder sicherzustellen.
Auch Menschen mit Behinderung haben viele offene Fragen zu Familienplanung, Schwangerschaft und Geburt sowie Kinderpflege, -betreuung und -erziehung. Eine der häufigsten Fragen ist sicherlich: „Wie gelingt trotz Behinderung ein selbstbestimmtes Familienleben mit Kindern?“ Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen helfen Antworten zu finden, zeigen Möglichkeiten für konkrete Hilfen auf und bieten Unterstützung an.
EMPFÄNGNISVERHÜTUNG
Mit dem Anspruch, die sexuellen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung ernst zu nehmen, ist auch ein verantwortungsvoller Umgang mit der Frage der Empfängnisverhütung verbunden. Nur unter besonderen Umständen, darf diese präventiv erfolgen.
An folgenden Kriterien sollte sich eine Entscheidung orientieren, welche Verhütungsmethode bei Menschen mit Behinderung eingesetzt wird:
- Wie zuverlässig ist die selbständige Einnahme?
- Werden gleichzeitig Medikamente eingesetzt, die bestimmte Präparate von
- vornherein ausschließen?.
- Welche Nebenwirkungen und Spätfolgen sind zu erwarten?
- Grundsätzlich: So verträglich wie möglich, nur so viel Eingriff wie nötig.
- Keine prophylaktische Verhütung, sondern ausschließlich am tatsächlichen Bedarf orientiert!
- Wo immer möglich, sollte die Entscheidung durch und mit den Betroffenen getroffen werden, um ein Bewusstsein für diesen Bereich zu wecken.
Sterilisation von Frauen mit Behinderungen
Untersuchungen zur praktischen Umsetzung der Sterilisation von Frauen mit Behinderungen zeigen, dass die dafür geltenden rechtlichen Vorgaben aus § 1905 BGB nicht immer eingehalten werden. Zur Eingrenzung der teils vorschnellen Praxis soll die Sterilisation nur noch dann zulässig sein, wenn zur Bestätigung des Vorliegens von § 1905 BGB zwei medizinische Gutachten vorliegen. Diese sind von den Ärztinnen und Ärzten unabhängig voneinander zu erstellen, mindestens einer oder eine von beiden darf die Patientin nicht dauerhaft betreuen.
Um außerdem keine finanziellen Anreize zur frühzeitigen Sterilisation von Frauen mit Behinderungen zu schaffen, fordern wir die altersunabhängige Übernahme der vollen Kosten für verschreibungspflichtige Verhütungsmittel durch die Krankenkassen.
SEXUALASSISTENZ
Die sogenannte Sexualassistenz spielt eine zentrale Rolle in der Überwindung der alltäglichen Hindernisse in der Auslebung der eigenen Sexualität von Menschen mit Behinderung. Grundlage dafür muss ein Zugang zu sexualpädagogischer Information und Beratung sein.
Hier ist die Unterscheidung zwischen passiver und aktiver Assistenz zu treffen. Die passive Assistenz beinhaltet indirekte Hilfen. Hilfen, die Voraussetzungen schaffen, dass sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden können. Dazu gehören zum Beispiel:
- Sexualpädagogische Information und Beratung,
- Sicherstellung eines privaten Raumes und ungestörter Zeit,
- Unterstützung bei der Partnersuche,
- Gelegenheiten geben, den eigenen Körper zu berühren(bei Windelträgern, Trägern von Overalls, …),
- Hilfe bei der Beschaffung von Hilfsmitteln wie erotische Zeitschriften oder Abbildungen, Videos, künstlicher Vagina, Vibrator, Gegenständen, die als Fetisch dienen können.
Bei der aktive Sexualassistenz handelt es sich hierbei zum Beispiel um:
- Stimulation mit dem Ziel sexueller Erregung (erotische Massagen, Berührungen mit dem eigenen Körper …)
- Anleitung zu einer befriedigenden Masturbation oder aktive Unterstützung bei der Masturbation (Handführung oder eigenes „Hand anlegen“)
- Geschlechtsverkehr
Auf die aktive Sexualassistenz besteht kein grundsätzliches Recht, dennoch darf der Zugang dazu nicht verwehrt werden.
SCHUTZ VOR SEXUELLEM MISSBRAUCH
Sexueller Missbrauch von Menschen mit Behinderung ist ein besonderes Tabu, das im deutschsprachigen Raum vor allem seit der Mitte der 90er Jahre Gegenstand der Forschung ist. Studien und Untersuchungen belegen, dass:
- Menschen mit Behinderung häufiger sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind als Menschen ohne Behinderung,
- Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben und aufgewachsen sind, einem größeren Risiko ausgesetzt sind.
- Sexueller Missbrauch gegenüber Menschen mit und ohne Behinderung fast immer eine Beziehungstat ist und die Täter überwiegend Männer sind (90%). „Institutionen für Menschen mit Behinderung sind „Hochrisikogebiete für sexualisierte Gewalt.“ (Tschan, 2012)“
Wie könnte sexueller Missbrauch möglicherweise verhindert werden?
- Durch eine frühzeitig einsetzende und fortlaufende sexualpädagogische Begleitung. Das Wissen um körperliche Vorgänge, die Sicherheit, zwischen angenehmen und unangenehmen Gefühlen unterscheiden zu können und die Fähigkeit, nein sagen zu können, sind zusätzlicher Schutz für Menschen mit Behinderung.
- Das Thema Selbstbestimmung und Abgrenzung muss beständig Thema bleiben und muss in den verschiedenen Bereiche, die dieses Thema betrifft auf die Umsetzung diskutiert werden.
- Durch eine Grundhaltung, die den Menschen mit Behinderung das Recht auf Intimität, Sexualität und einem sorgsamen Umgang damit zu gesteht; ebenso durch eine Atmosphäre, in der persönliche Grenzen geachtet werden.
- Durch eine offene Kommunikation und einen Austausch zum Thema Sexualität – sexueller Missbrauch innerhalb der verschiedensten Bereiche, in denen mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet wird.
- Durch die Stärkung der Menschen mit Behinderung in Bezug auf Selbstbestimmung, Wunsch-und Wahlrechte, Ressourcen und Fähigkeiten.